Kirchenbesetzung in Lyon: Die Hintergründe des Internationalen Hurentags am 2. Juni
„Unsere Kinder wollen ihre Mütter nicht ins Gefängnis gehen sehen.“ Unter diesem Slogan besetzten am 2. Juni 1975 über 100 Sexarbeitende die Kirche Saint-Nizier in Lyon. Seitdem erinnert der 2. Juni – inzwischen als Internationaler Hurentag bekannt –, an den Kampf für die Rechte von Sexarbeiter*innen. Doch wie war es zu der Besetzung eigentlich gekommen?
Obwohl in Lyon Anfang der 1970er Jahre Prostitutionsstätten illegal waren, war das Rotlichtviertel von ihnen geprägt. Die Bedingungen, unter der Sexarbeit geleistet wurde, waren sogar vergleichsweise gut: Oft wurden diese „Hotels“ von ehemaligen Prostituierten geleitet, Sexarbeitende bekamen das Geld direkt von den Freiern und nicht über eine dritte Person, sie konnten ihre Stunden frei wählen und auch die hygienischen Zustände waren zufriedenstellend.
Im Zuge eines politischen Skandals, der die Verwicklungen örtlicher Politiker und Polizisten in das Rotlichtmilieu aufdeckte, verschlechterten sich diese Bedingungen jedoch schlagartig. Die „Hotels“ mussten schließen und mit ihnen verschwanden die guten Arbeitsbedingungen. Schon hier formierte sich erster Protest der Sexarbeiter*innen, der jedoch weitgehend erfolglos blieb. Zu einer Demonstration erschienen aus Angst vor Repressionen und Outings nur etwa 30 Teilnehmende. Von der lokalen Presse spöttisch betrachtet, wurden diese zu einer Polizeiwache eskortiert, wo sie mehrere Stunden in Gewahrsam verbringen mussten. Der solidarische Kampf für ihre Rechte schien vorerst beendet.
Die nächsten Jahre waren durch harte Repression und sehr schlechte Arbeitsbedingungen geprägt. Einige Frauen wurden zudem aufgefordert, horrende Summen an Steuergeld nachzuzahlen, die auf fragwürdigen Rechnungen basierten. Darüber hinaus wurden allein zwischen März und August 1974 drei Prostituierte ermordet. Die Täter konnten durch die Polizei, der Interessen- und Tatenlosigkeit vorgeworfen wurde, nicht ermittelt werden. Eine weitere Gängelung trat hinzu: Ein altes Gesetz wurde wieder in Kraft gesetzt, was die schnellere Inhaftierung von „Wiederholungstäter*innen“ vorsah. Für Sexarbeitende, die für die gleichen Vergehen an den selben Orten angezeigt wurden, bedeutete dies eine konkrete Gefahr. Durch ein Gefängnisaufenthalt wurde auch ein Outing als Sexarbeiter*in vor Familie und Freunden wahrscheinlich und bei Müttern drohte der Verlust des Sorgerechts der eigenen Kinder.
Um sich gegen diese Bedingungen zu wehren, besetzten am Morgen des 2. Juni 1975 über 100 Sexarbeiter*innen die Kirche Saint-Nizier. Dabei wurden sie vielfältig unterstützt. Obwohl sie für ein Verbot der Prostitution standen, unterstützen katholischen Gruppen die Besetzer*innen, um sich gegen das Leid der Frauen stark zu machten. Daneben solidarisierten sich mit den Sexarbeiter*innen feministische Gruppen, die meist noch keinen klaren Standpunkt zur Prostitution vertraten sowie Anwohner*innen. Die Besetzung stand unter dem Motto „Nous sommes toutes des prostituées.“ („Wir sind alle Prostituierte“). Dies sollte die allgemeine Unterdrückung der Frauen im Patriarchat ausdrücken. Die Besetzung sorgte schnell für nationale und internationale Schlagzeilen und es folgten prompt Kirchenbesetzungen in weiteren französischen Städten. Die Politik ging jedoch nicht auf Forderungen der Besetzer*innen ein und ignorierten diese. Am 10. Juni wurde die Kirche brutal durch die Polizei geräumt. Danach folgten kleinere (Vernetzungs-)Aktionen in der Stadt, jedoch kam es ab 1976 zu keinen weiteren nennenswerten Aktionen mehr.
Dennoch gilt die Kirchenbesetzung als wichtiger Beitrag zur Gründung einer eigenständigen Hurenbewegung. Heute sind politisch aktive Sexarbeiter*innen deutschlandweit und international vernetzt und haben im Kampf für ihre Rechte schon einiges erreicht. Trotzdem sind viele Forderungen von damals noch immer aktuell. Noch immer werden Sexarbeitende stigmatisiert, sind Repressionen ausgesetzt und leiden durch Kriminalisierung unter schlechten Arbeitsbedingungen. Deshalb fordert auch Hydra e.V. die Kriminalisierung von Sexarbeit und Diskriminierung von Sexarbeiter*innen endlich zu beenden, (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsvorsorge für Menschen in der Sexarbeit weiter auszubauen, Immigrationsgesetze zu reformieren und ein besseres Unterstützungsangebot für diejenigen, die aus der Sexarbeit aussteigen wollen.